Theater im Kampfmodus
Wenn man in den Medien verfolgt, was zur Zeit in der benachbarten Ukraine geschieht, wenn man sieht und liest, wie Menschen Opfer einer mit äußerster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführten Invasion werden, ihr Leben verlieren, wie weiterhin Hunderttausende vertrieben werden, scheinen Kultur und Kunst völlig nutzlos. Denn sie können angesichts der vom Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, angeordneten Verbrechen weder Trost spenden, geschweige denn Menschenleben schützen oder gar retten. Bei einem Angriff auf das Theater in der inzwischen in großen Teilen zerstörten Stadt Mariupol kamen etwa 300 Menschen ums Leben, die dort Schutz gesucht hatten. Man denkt dabei unwillkürlich an einen Aufsatz des Philosophen und Soziologen der Frankfurter Schule, Theodor Adorno, aus den frühen Nachkriegsjahren, in dem es hieß, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Später revidierte er seine Aussage, zumindest teilweise.
Mit Blick auf die derzeitige Tragödie in Europa muss sich auch das Theater erneut die Frage stellen, was es kann und könnte. Ob einiges von dem, was es geboten hat und bietet, nicht nur billige Unterhaltung ist. Es sollte sich fragen, ob es die Möglichkeiten nutzt, die es hat. Denn eines unterscheidet das Theater von anderen Künsten: Es ist ein Ort der Begegnung zwischen dem Publikum und den Darstellern, ein Ort des gemeinsamen Erlebens, das über die individuelle Erfahrung hinausgeht, wie sie etwa bei der Lektüre eines Buches stattfindet. Darsteller und Zuschauer kommen zusammen, sie tauschen sich gegenseitig aus. Es sollte daher ein Anliegen des Theaters sein, darauf zu achten, welche Fragen die Gesellschaft bewegen, es sollte diese Fragen formulieren können und nach möglichen Antworten suchen. Das Theater hat die Chance, unsere individualisierten Gesellschaften wieder zu einer Gemeinschaft zu machen, sei es auch nur für die Dauer eines Abends.
Doch jenseits
der Wünsche, der Besinnlichkeiten und der mehr oder minder tief ausgeloteten
Deutungen darüber, was Theater ist und sein könnte, ist es die Ukraine, die uns
eine Lektion lehrt. In Lemberg (Lwiw), im Westen des Landes, gibt es ein
Theater, das den Namen der ukrainischen Nationaldichterin und Feministin
Lesja Ukrainka trägt. In dem Ensemble herrscht Konsens darüber, dass das
Theater die Gesellschaft verändern kann, wenn es Stücke aus der Realität
spielt. Dem derzeitigen Leid, dem die Bewohner des Landes ausgesetzt sind, den
Zerstörungen kann kein Theater der Welt künstlerisch etwas entgegensetzen.
Das "Lesja" hat Flüchtlinge aufgenommen, Hilfsgüter gestapelt, den
Luftschutzbunker wieder in Betrieb genommen und Molotowcocktails vorbereitet.
"Wir haben gelernt, sie zu benutzen", so die Leiterin des Theaters,
Olha Puschakowska. "Falls nötig, handeln wir." Das ist ein Credo, das
sich die Theaterhäuser europaweit auf die Fahnen schreiben könnten.
Video: https://www.facebook.com/teatrulgerman/videos/712270066796269
Rudolf Herbert
Stellv. Intendant - Künstlerischer Leiter